Sonntag, 9. Oktober 2011

Wir haben es gut!

Erzieher - ein ganz normaler (Berufs)alltag.

Munter schwatzend und sich brav an den Händchen haltend zieht eine bunt gemischte Schar aus dem „Zwergenland“ durch die Wohnsiedlung. Die Anwohner recken neugierig die Hälse, beobachten und zählen nach: Achtzehn Drei- bis Vierjährige und ihre beiden Erzieherinnen, eine Gruppe der örtlichen Kindertagesstätte.

Ein perfektes Bild…

„Ach sind die niedlich!“
„Wie schön die spazieren gehen!“
„Die kleinen Kerlchen, einfach goldig!“
„Wie brav die sind!“

Und dann kommt meistens noch jener berühmte Satz, der an uns Erzieher gerichtet ist und uns jedes Mal ein süßsaures Lächeln aufs Gesicht zaubert:

„Ach, Ihr habt es wirklich gut!“ 

.*

Echt? Haben wir?


Reden wir mal über die vielleicht nicht allen bekannte „Vorgeschichte“ zu diesem perfekt anmutenden Bild einer durch den winterlichen Vormittag spazierenden Kindergartengruppe mit ihren „Tanten“:


Es hat die ganze Nacht über geschneit. Der Neuschnee ist nass und pappig und lädt ein zu Schneemannbau und Schneeballschlacht. Aber halt, zu nass dürfen die Kleinen ja auch nicht werden, sonst droht Erkältungsgefahr. Also erst ein kleiner winterlicher Pflichtspaziergang und danach die Lizenz zum Toben im Garten.

Vorher natürlich witterungsgemäß anziehen.
Jeder der achtzehn Zwerge greift sich seine persönliche Winterausrüstung und langt im Übereifer auch schnell mal ins Garderobenfach des Nachbarn. Ähnlich wie beim Winterschlussverkauf packt erst einmal jeder, was er kriegen kann, und dann geht’s los… Zuerst die Handschuhe, oder vielleicht doch erst die Schuhe? Huch, verkehrt, sprich „Zickenfüße“. Und wem gehört die einzelne Socke, die da eben aus dem Stiefel gefallen ist? Nie gesehen, also liegenlassen. Vielleicht sollte man doch zuerst die Hose…? Nee, viel zu kompliziert, Mütze geht viel leichter.

„Frau Schneider hat gesagt, wir brauchen alle die Schäler!“ gibt Paul lautstark sein Wissen zum Besten und zerrt seinen Wollschal beängstigend fest um den Hals.
„Was denn für Schäler?“ frage ich vorsichtig.
„Na die für die Hälser!“ belehrt er mich wichtig.
Ah ja…

„Zuerst ziehen wir die Hosen an!“ versucht meine Kollegin Ordnung in das Chaos zu bringen. Zuerst die Hosen? Wieso das denn? Nie gehört!

Bei einem Lärmpegel, der dem in einer mittleren Maschinenhalle gleichkommt, sortieren wir in fliegender Eile Hosen, Mützen und Schals, die uns erwartungsvoll entgegengestreckt werden. Ich bücke mich hinunter und schließe einen widerspenstigen Reißverschluss. Aus Freude und Dankbarkeit hüpft Eric spontan in die Höhe und verpasst mir mit seinem Kopf einen Kinnhaken, Marke „Fliegengewicht“.

Bei der nächsten Hilfestellung gehe ich nun vorsichtshalber in die Hocke, was die kleine moppelige Tara dazu veranlasst, sich enthusiastisch in meine Arme zu werfen. Mühsam rapple ich mich wieder auf. Was soll`s, die Kleinen lieben uns eben.

Ich stolpere über herrenlose Hausschuhe und beschließe, die Anzieh-Aktion aus persönlichen Sicherheitsgründen in sitzender Position fortzusetzen. „Guck mal, die sind ganz fest!“ Jonas hat versucht, die Knoten in seinen Schnürsenkeln durch kräftiges Ziehen zu bezwingen und gibt nun mit Tränen in den Augen kleinbei. „Nicht so schlimm, das kriegen wir schon hin!“ tröste ich schnell.  Es gelingt mir mit der ganzen Kraft meiner Fingernägel den Knoten zu lösen, worauf Jonas begeistert meint, er würde mich heiraten. Ich lächle geschmeichelt und gebe zu bedenken, dass Herr Schneider damit sicher nicht einverstanden wäre, worauf der Vierjährige bereitwillig erklärt: “Der kann doch dann auch mit bei uns wohnen!“

Hinter mir kreischt Markus los, ein wütendes Geheul aus Empörung und Resignation. „Was ist denn?“ 
„Geht nicht!“ schreit er seine Zauberworte heraus, jene Worte, die Mama und Papa zu Hause sofort im Dreieck springen lassen. Bei mir funktionieren sie nicht. „Geht nicht gibt`s nicht.“ erkläre ich betont ruhig und widme mich dem Objekt seines Wutanfalls, einer hellen Cordhose, bei deren Anblick ich mich so ganz nebenbei frage, ob dies das richtige Kleidungsstück für einen Zwerg ist, der sich diebisch darauf freut, draußen im Neuschnee herumzutoben. Na ja, saugfähig ist sie auf jeden Fall. Ich entwirre die völlig verkrempelten Hosenbeine und reiche sie ihm. Murrend beginnt er erneut den schwierigen Einstieg.

Ich wende mich unterdessen dem nächsten hilfsbedürftigen Kind zu.
Bei Kevin fehlen Mütze und Schal, ich zaubere die Sachen schließlich aus seinem Jackenärmel, was er absolut toll findet. Zur Belohnung reicht er mir ein paar nagelneue Fingerhandschuhe. Zehn kleine Zappelfinger dort hinein zu befördern, verlangt Geduld und Geschick. Nach einigen vergeblichen Versuchen stimmt die Anzahl der Finger mit denen der Handschuhe endlich überein und wir atmen beide erleichtert auf.

Dafür schreit Markus schon wieder wegen seiner Hose. Er steckt in einem Hosenbein, doch nun ist das andere scheinbar verschwunden. Warum muss eine Hose auch unbedingt zwei Beine haben?

Langsam aber sicher löst sich das kunterbunte Chaos und die älteren Kinder drängen sich lautstark an der Ausgangstür. Zeit für meine Kollegin, in Windeseile in Jacke und Schuhe zu schlüpfen. Während sie die ersten zehn bis zwölf Kinder in die „große Freiheit“ des Spielplatzes entlässt, widme ich mich weiterhin den vom Stress des Anziehens völlig überforderten Kleinsten. Wozu manch ein Elternteil bei seinem Sprössling mindestens eine Viertelstunde braucht, muss hier Minutensache sein.

Ich merke genau, wer zu Hause schon etwas gelernt hat und wer nur „bedient“ wird. Ihre Hoheit „Lena die Erste“ zum Beispiel sitzt gelassen auf der Bank und wartet geduldig aufs Personal. Die Zeit bis dahin vertreibt sie sich mit einem Lied. Nein, nicht „Alle meine Entchen“, das ist Schnee von gestern, ihren Hit erkenne ich deutlich als „Poker Face“ von Lady GaGa.

Steffi und Emily zanken um den rechtmäßigen Besitz einer Mütze mit Zöpfen, während sich der Besitzer eines kuscheligen blauen Schals, den ich hoffnungsvoll feilbiete, vorerst noch nicht zu erkennen gibt.

Markus hat endlich den Kampf gegen seine Hosenbeine gewonnen. Immer noch frustriert knallt er mir seine Schuhe auf die Knie. „Geht nicht!“ Nein, das geht wirklich nicht! Beide Schuhe noch fein säuberlich zugebunden, mit Doppelknoten. Insgeheim bedanke ich mich bei den Eltern, die es am Morgen wohl sehr eilig gehabt haben, für dieses zusätzliche „Geschenk“. Ich entknote geduldig die Schnürsenkel und lockere sie, doch trotz allergrößter Anstrengung gelingt es mir nicht, Markus` kleine Füßchen hineinzubekommen.
„Geht nicht!“ jappst er und ich bin kurz davor, ihm zuzustimmen, da haben wir schließlich doch Erfolg.
„Na also!“ Erleichternd aufatmend weise ich auf sein Garderobenfach. „Dann hol mal Deine Jacke!“

Nachdem der Streit um die Mütze geschlichtet und der Besitz des herrenlosen Schals geklärt ist und ich die restlichen Kinder nun witterungsgemäß gekleidet in den Garten entlassen habe, widme ich mich erneut Markus. Er ist zurück und hält mir anstatt der gewünschten Jacke nun siegessicher eine dick gefütterte Anorakhose vor die Nase. „Für draußen!“ erklärt er mir wichtig. Ein Seufzer der Verzweiflung löst sich von meinen Lippen. Ich blicke in seine erwartungsvollen Augen, atme tief durch und zähle in Gedanken bis drei.
„Na super!“ sage ich betont fröhlich, bevor wir unser Spiel mit den Kleidungsstücken nochmal von vorn beginnen.

Und nun sagt mal ehrlich:

Sind wir Erzieher nicht zu beneiden?
Klar doch, wir haben es gut!

1 Kommentar:

  1. Toller Text und auch wirklich gut geschrieben :)

    Es ist immer kränkend Sätze wie „Ach, Ihr habt es wirklich gut!“ zu hören und es ist nervig, keine Frage.

    Trotzdem denke ich immer das jeder sich seinen Beruf so ausgesucht hat und jeder könnte etwas an seiner Situation verändern wenn er es möchte.
    Ich höre so viele Klagen, so viel Unzufriedenheit,.. manchmal bin ich es satt.

    Ich könnte auch sagen ich sehe Kinder sterben, ich habe Schichtdienst, Pflegenotstand,.. aber nein das tue ich nicht. Weil ich zufrieden bin und ich mich bewusst dafür entschieden habe!

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